Montag, 15. Juni 2009

Notarzteinsatz mit Überraschungseffekt

Es ist ca. 14 Uhr an einem ganz normalen Arbeitstag. Seit kurzem habe ich die Ehre von Zeit zu Zeit tagsüber "Träger des Notarztpiepers" sein zu dürfen.

Unser kleines Krankenhaus muss nämlich die notärztliche Versorgung in seinem Landkreis sicherstellen. Und wie solls auch anders sein, auch bei uns macht sich der Ärztemangel breit.
Da wir ein Haus der Grund- und Regelversorgung sind, bleiben bei uns die Ausbildungsassistenten nicht lange genug um überhaupt die Notarztqualifikation zu erwerben (Halbwertszeit eines Assistenten ca. 3 Jahre, danach hauen alle meistens ab). Deshalb gerät die notärztliche Versorgung immer mehr in eine Schieflage, da nur die Altassistenten und Fachärzte den Notarztdienst übernehmen können (eigentlich sollen diese operieren oder im internistischen Falle ihre Funktionsdiagnostik oder Interventionen durchführen).
Naja auf jeden Fall gehörte ich bis vor kurzem auch noch zu denen ohne Qualifikation. Verschuldet war dies durch die Umstände, dass man eben auf bestimmte Abschnitte der Ausbildung warten muss (Stichwort ITS-Zeit) oder schlicht und einfach kein Geld hat um den Kurs zu bezahlen(560 EURO) oder keinen Urlaub mehr hat (7 Tage Kurszeit).
Man könnte nun ketzerisch die Frage stellen, wenn doch das Haus den Sicherstellungsauftrag hat und möchte auch viele Notärzte ausbilden, um diesen Auftrag zu erfüllen, dann könnte doch eine umsichtig planende Verwaltung diverse Schwierigkeiten von sich aus beseitigen (siehe oben).
Ich denke da an strukturierte Ausbildung (vielleicht ein Rotationsplan) oder an ein, "das Haus bezahlt den Kurs", oder vielleicht ein "wir stellen sie für den Kurs frei". Aber nein, man spart am Geld ("den sie profitieren ja wenn sie den Kurs haben, dann können sie ja mit der Qualifikation Geld verdienen!"), an der Zeit ("sie haben 5 Tage Fortbildungsfrei, bisher haben alle immmer zwei Tage für den Kurs gekriegt, den Rest nehmen sie bitte Urlaub!") und am Ende tritt man auch noch 3/4 der Kohle ans Haus ab, wenn man dann tagsüber Notarzt fährt...
Und dann wundert man sich tatsächlich, dass sich die Leute nicht sofort auf den Kurs stürzen und ihn absolvieren...tststs. Aber ich schweife vom Thema ab.

Wo war ich... ach ja: PIEP, PIEP, PIEP: Einsatzmeldung: V.a. Schlaganfall

Ich stürme also voller Elan zum NEF, bewaffnet mit der "NOTARZT"Jacke. Mein heutiger Fahrer, im Rettungsdienstslang heißt er der "NEF-Kutscher", erwartet mich mit dem Spruch "Ruhig Brauner..." und startet den Motor. Ihn mag ich persönlich wirklich gerne, da er gleich mehrere Eigenschaften in sich vereint:
Penibelste Genauigkeit, gepaart mit einem Schandmaul, dass schonungslos auf jede kleinste Fehlleistung irgendeiner Art bei den Rettungsdienstlern, aber auch bei den Notärzten hinweist, dabei aber ein unheimlich gutes Gespür für die Situation hat und eine gesunden Portion ätzender Humor (.... und er hört gute Musik).

Wir fahren los, ganz in die Nähe vom Krankenhaus. Im Geiste gehe ich noch einmal Diagnostik und die Richtlinien für das Procedere Schlaganfall mit Lyse durch. Ca 2 min später, hiefen wir uns aus dem Auto, der RTW ist noch nicht vor Ort, wir nehmen also zur Sicherheit erstmal die notwendigsten Sachen mit.
Hmmm, erster Blick in die Umgebung: Unterschicht, merhstöckige Sozialwohnungen, mehrere Personen mit Bierflaschen, die rauchend in der Gegend rumhängen. Mein Kumpel im Osten würde dies wahrscheinlich alles unter "Platte" zusammenfassen (obwohl die Wohnungen in den sanierten "Platten" nicht schlecht sein sollen...) .
Mein Fahrer hält mir Handschuhe hin, "hier die brauchste hier sicherlich".
Wir gehen also ins Gebäude - 5. Stock.
Fahrer: " ich wette auf über 100 Kilo". Ich nicke nur.
(Kenn ich von früher, als ich selbst noch als Sani, mehr als 150 kg Lebendgewicht, per Tragestuhl in einem Treppenhaus mit Radius unter 1m, die Leutchen ins Auto geschleppt habe. Scheint so eine Gesetzmäßigkeit zu sein. "Das Körpergewicht der zu tragenden Person steigt proportional zur Höhe der bewohnten Etage.")
Wir sind angekommen und klopfen. Eine besorgt aussehende ältere Dame öffnet die Tür. Ein hüfthoher Hund flutscht durch den offenen Spalt, die Frau schickt ihren Mann hinter dem Hund her. "Edgar (Namen verändert)! Geh mal dem Hund hinterher!"
Ich schüttel der Frau die Hand, stell mich vor und frag sie worum es geht. Die Frau führt mich ins Wohnzimmer. Schon im Flur fällt mir die Unordnung, die abgestandene Luft und der insgesamt verlotterte Zustand der Wohnung auf. Ein Blick zum NEF-Kutscher wird vielsagend mit Gestik Richtung Handschuh erwidert. Wir stapfen hinter der Frau her.

In der Wohnung sitzt eine Dame mittleren Alters im Nachthemd auf der Couch, die, so bald sie mich sieht, sofort den Kopf schüttelt und sagt: "Ohhh nee, was wird den das nun hier?"
Das Wohnzimmer sieht aus wie nach einem Sturm durch eine SEK-Einheit. Überall liegen Zeitschriften, leere Verpackungen von Essen, Hundefutterschachteln, und sonstige Dinge herum. Die Läden sind heruntergelassen, Schubladen stehen offen, Post liegt herum und in der Wohnung steht die abgestandene Luft(Gott sei Dank stinkt es nicht...). Der Fernseher läuft, irgendso eine Telenovella in wahnsinniger Laustärke.
Die erste ältere Dame stellt sich als die Mutter der zweiten Dame heraus. Diese hatte uns auch telefonisch alarmiert, da sie Angst um ihre Tochter gekriegt hatte, wegen eines möglichen Schlaganfalles.
Nachdem ich es tatsächlich geschafft habe, um überhaupt etwas zu verstehen, zunächst das Fernsehen leisermachen zu lassen, ausschalten war keine Option, und die Dame ganz grob auf ihre Vitalparameter einschließlich ihrer Vigilanz untersucht habe (das tolerierte sie seltsamerweise...), komme ich zu dem Schluss zuerst einmal ausführlich außerhalb des Raumes mit der "Mutter" zu sprechen.

Wie sie denn auf einen Schlaganfall komme, frage ich die ältere Dame, nachdem ich bereits bei dem Disput mit der jüngeren Dame zwar festgestellt hatte, dass diese höchst auffällig, jedoch auf den ersten Blick nicht neurologisch eingeschränkt erscheint.

Naja ihre Tochter habe ihr am Telefon mitgeteilt, dass sie nicht sprechen könne und auch nicht mehr schreiben und da sie sowas von der Nachbarin kenne, den, diese hatte einen Schlaganfall erlitten, habe sie pflichtbewußt den Notarzt gerufen.
Hmmm... eine Schreibschwäche hatte ich nicht überprüft, aber eine Sprachstörung war beim besten Willen bei der zweiten Dame nicht festzustellen.
Ob sie denn schon unter bekannten Krankheiten leide, frage ich die alte Dame.
Naja, meinte diese, bis auf ihre Angststörung wäre sie bisher noch nicht in Behandlung gewesen. Aber sie wäre ja auch schon seit 5 Jahren nicht mehr beim Arzt gewesen. Und damals wäre alles schief gelaufen, sie habe ganz anders reagiert auf die Medikament als die Ärzte geplant hätten und so hat sie einfach alles weggelassen und hat auch keine weiteren Arztbesuche getätigt.
Was ihre Angststörung beinhalte und wie sie aktuell damit zurechtkomme, ist meine nächste Frage...
Naja sie hätte Angst vor Ärzten und traue sich auch gar nicht mehr vor die Haustüre. Seit 5 Jahren habe sie das Haus nicht mehr verlassen.
Etwas erstaunt frage ich weiter. Wie denn ihr Leben, einschließlich des Hundes, dann überhaupt verlaufen würde, frage ich die ältere Dame.
"Naja", berichtet diese, "mit dem Hund Gassi gehen, Einkaufen und grobe Sauberkeit in der Wohnung und so das machen mein Mann und ich."
Aha, sage ich und wegen Arbeit und so, von was lebe ihre Tochter denn, ist meine nächste Frage.
Na Arbeit habe sie seit 5 Jahren nicht mehr. Harz IV-Empfänger sei sie.
"Dann muss sie nicht auch von Zeit zu Zeit aufs Amt?" frage ich weiter.
Nö, da wäre die Tochter noch nie gewesen, das erledigen ebenfalls sie und ihr Ehemann. Man kenne jemand dort vor Ort.
Ein Blick ins Gesicht meines Kutscher zeigt das mittlerweile fallende Stimmungsbarometer. Ich sehe eine Brille und eine Rechnung vom Optiker.
"Und wie haben sie das mit der Brille gemacht, der muss da doch die Sehstärke ausmessen... "
"Wir haben einfach die alte Brille hingebracht, dass hat ganz gut funktioniert..."erwidert die alte Dame.
Da wundert es mich doch schon, dass es anscheindend im bürokratischen Deutschland möglich ist, komplett alle Ämtergänge zu erledigen ohne dass die betreffende Person anwesend sein muss.
Nun nachdem ich der Dame erklärt habe, dass ich auf keinen Fall unter diesen Umständen einen Schlaganfall oder eine TIA ausschließen kann und aber auch der Meinung bin, dass das ganze hier sowieso nicht so weiter gehen kann, versuche ich erneut mit der Patientin zu reden, um ihr klar zu machen dass ein Arztbesuch nun unaufhaltsam ist. Dabei deute ich bereits an, dass sie eben nun keine Möglichkeit mehr hat, dieses Angebot abzulehnen und nun wählen solle, ob sie freiweillig mitkommt oder ob ich das Sozialgericht einschalten muss. Denn und das wissen viele nicht, es erfordert immer einen richterlichen Bescheid um jemand gegen seinen Willen ins Krankenhaus zu bringen. Noch nicht einmal die Polizei agiert mehr ohne solch einen Beschluss...

Nachdem ich nun alle Optionen meiner Patientin erörtert habe und wir auch mit Engelszungen sowohl der Mutter, als auch der Kutschr auf seine spezifische Art und ich nicht zu ihr vordringen können, muss ich in den sauren Apfel beissen und die "Staatsgewalt" alarmieren. Etwa 30 Minuten später erscheint diese in Gestalt von 2 Beamten in Uniform und dem Amtmann, der nun von mir hören will, warum den "freiheitsentziehende Maßnahmen" angesagt sind. Und jetzt kommt es:
es müssen klare juristische Voraussetzungen vorliegen um diese Maßnahmen zu rechtfertigen. Also, dass unsere Person bereits 5 Jahre lang das Haus nicht mehr verlassen hat und auch sonst eher schlecht mit dem Leben klar kommt, reicht nicht als Grund... Nachdem ich nun aber besagten Schlaganfall nicht wirklich ausschließen kann und damit auch eine Lebensgefahr besteht und die Dame dies auch offensichtlich nicht rational erfassen kann, liegt der Grund zumindest für eine 24h-dauernde Unterbringung zur Diagnostik vor und der Dame wird dies durch die behandschuhten freundlichen Polizisten verdeutlicht. Nach sanftem rhetorischen Nachdruck durch die Herren in grün, läßt sie sich durch die vorhandene Staatsgewalt doch überzeugen und begleitet uns in den RTW.

Während der ca 40 minütigen Fahrt taut sie sogar etwas auf und wir dürfen ihr Stofftier streicheln...In der Neurologie/Psychiatrie angekommen wird die Dame zunächst an die Kollegen übergeben, die sich so gar nicht über meinen Erfolg freuen, dass ich die Dame aus ihrer gewohnten Umgebung herausreiße um sie in die ärztliche Obhut zu übergeben.

Zähneknirrschend müssen aber auch die Kollegen anerkennen, dass ein Schlaganfall zwar nicht wahrscheinlich, aber auch in letzter Instanz nicht auszuschließen ist. Meine Vermutung, dass es sich bei der Symptomatik eher um eine kleine Episode der Angststörung der Patientin handelt wird mit einem Achselzucken abgetan.
Diese hatte mir auf der Fahrt verraten, dass sie einen kleinen Streit mit der Mutter hatte und sie hatte sich deshalb sehr über diese aufgeregt und dann hätte sie bemerkt, dass sie Angst gekriegt hat, dass sie schlechter reden könne und auch schlechter schreiben und dass sie eine schlechte und dumme Tochter sei. Dabei habe sie dann gemerkt, dass sie eben nicht mehr reden und schreiben könne, dann habe sie ihre Mutter angerufen und ihr dies mitgeteilt)


Schade, ich sah eigentlich hier die Möglichkeit, etwas im Leben der Patientin zu verändern und sie vielleicht besser lebensfähig zu machen, jetzt wo sie schon mal beim Arzt ist. Dummerweise habe ich nicht das Gefühl, dass hierzu diese Vorstellung in der Neurologie/Psychiatrie diesmal ausreicht, da die Kollegen nicht so sehr den Enthusiasmus verspürten, die Patientin wieder lebens- und gesellschaftsfähig zu machen. Wahrscheinlich wird der Schlaganfall ausgeschlossen und die Patientin wieder nach Hause entlassen. Bis dann zum nächsten Einsatz in Ihrer Wohnung...